Gedanken zu Open Data und agilen Prozessen

Ich bin super glücklich darüber, als Engineering Fellow 2020 bei Tech4Germany angenommen worden zu sein. Wir haben eine wunderbar organisierte, voll gepackte und inspirierende Onboarding-Woche hinter uns und werden nun in den jeweiligen Teams in die 8 Projekte eintauchen bis Ende Oktober. Ich bin im Projekt “Open Data Portal” mit dem Auswärtigen Amt und GovData.

Ich würde gerne diesen Zeitpunkt nutzen wo ich noch nicht super tief im Projekt stecke um ein paar allgemeine Gedanken aufzuschreiben. Später ist es mir möglicherweise peinlich so rumzuphilosophieren obwohl ich nur halb Ahnung habe. Aktuell habe ich noch angenehm kaum Ahnung :)

Während der Onboarding-Woche haben wir viel wertvollen Input von Change Agents in der öffentlichen Verwaltung bekommen. Viel davon drehte sich um den Mehrwert den die Akzeptanz und Verbreitung von agilen Prozesse bringen kann. Nicht zuletzt ist Tech4Germany ja selbst eine Initiative die dies als ein Ziel hat. Da ich gleichzeitig viel über unser Open Data Projekt gegrübelt habe, ist mir eine Parallele aufgefallen, die ich hier etwas ausbreiten möchte.

Bereits bei der Projektvorstellung kamen Fragen dazu, und ich nehme an, dass Open Data Portale sich häufig Fragen stellen müssen welche Anwender was mit diesen Daten tun werden. Diese Fragen haben natürlich ihre Berechtigung, lösen bei mir aber oft den Impuls aus den anderen Aspekt von “Open” in Open Data verteidigen zu wollen. Ich finde Open geht nicht nur um die Bereitstellung von öffentlichen Daten bzw. die Öffnung bisher verschlossener Datensätze – es geht auch um Open hinsichtlich möglicher Verwendungen. Projekt-Verantwortliche, Plattform-Betreibende und Datenbereitsteller sollten niemals eine abschließende Liste möglicher Verwendung der Daten im Kopf haben und stattdessen alles darauf ausrichten überrascht zu werden von unerwarteten Verwendungen die sie niemals hätten antizipieren können. Und dabei meine ich nicht so kleine Sprünge wie: “Oh, das ist ja unerwartet das neben der Immobilienbranche unsere Daten auch in der Schrebergarten-Szene verwendet werden” sondern mehr sowas wie “Oh, wie cool das unsere Berliner Baumbestandsdaten zur Entwicklung neuer Organismen für die Reise zum Mars beigetragen haben und außerdem die Entwicklung eines Covid-Impfstoffs beschleunigt haben”. Und selbst das ist noch zu klein gedacht weil es nur jetzt gerade am technischen Horizont schimmert, aber Jahrzehnte später wird die Front der Möglichkeiten eine ganz andere sein. Wie dem auch sei, ich will damit das Mindset um Open Data herum ansprechen. Wenn wir an unsere eigenen Biographien denken, gibt es sicherlich viele Beispiele, wo bestimmte Erlebnisse aus der Kindheit zum Schlüssel für spätere Karriereentscheidungen wurden. Damals lies sich unmöglich vorhersagen das der beiläufige Kommentar meiner Großmutter beim Spaziergang mich Jahre später dazu bewegt hat dieses Studium zu wählen. Eltern investieren so viel Liebe, Zeit und Aufmerksamkeit in ihre Kinder, idealerweise ohne festgelegt zu haben wie deren Leben sich entfalten wird. Ich fände es toll wenn sich bei mehr Menschen die in Positionen sind Daten in den Händen zu haben die sie dann veröffentlichen könnten ein Gefühl einstellt von: “Keine Ahnung was jemand damit machen könnte, aber das fühlt sich nach etwas an, das ich zur Verfügung stellen möchte.” Wie so ein Automatismus, man würde quasi ganz intrinsisch ein schlechtes Gewissen wenn man den Raum der Möglichkeiten um diese Datenquelle betrügen würde. Der Outside-In Effekt ist auch super spannend und wurde schon erwähnt in unserer Onboarding Woche. Wenn die öffentliche Verwaltung Daten öffentlich macht, ist natürlich auch für alle Mitarbeiter im selben Ministerium klar, dass sie diese Daten nutzen dürfen. Einfacher zu finden ebenso, nämlich genau da wo sie jeder finden kann. Eine teilweise veröffentlichte Auslagerung der eigenen Bestände. Ich stelle mir vor, dass das auch interessante organisationskulturelle Effekte mit sich zieht. Weniger Geheimnisse, näher am Bürger durch Zugriff auf die gleichen Daten, ein Streamlining hin zu einer Pipeline im Sinne: wir haben alle die gleiche Datengrundlage zur Verfügung und in diesen Strom klinken wir uns jetzt ein als Behörde durch gewissenhafte Verarbeitung dieser Daten und das Treffen von Entscheidungen basierend darauf.

Nun die Verbindung zum Wandel in der öffentlichen Verwaltung. Ich würde sagen, es geht um das Einlassen auf zielorientierte Suchprozesse statt dem Marschieren entlang linear geplanter Pfade hin zu fixen Zielen. Aber warum ist das “auf einmal” so? Die Zunahme der Komplexität in der Welt ist die offensichtliche Antwort. Dinge sind viel mehr in Bewegung als noch vor einem Jahrhundert. Das waren sie sicher schon immer, aber damals eben langsam genug, als das Korridore von der Gegenwart in eine geplante Zukunft lange genug offen gehalten werden konnte um sie per Projektmanagement durchschreiten zu können. War das Ziel erreicht, konnte es lange genug verteidigt werden als neuer Stand der Dinge, als das sich der Aufwand gelohnt hat. Mittlerweile bewegt sich alles so schnell das agile Prozesse die angemessene Vorgehensweise sind. Und ist ein Ziel einmal erreicht, geht es um kontinuierliche Weiterentwicklung. Die Community um ein Open Source Projekt herum bspw. ist mittlerweile absolut entscheidend um die zu erwartende Langlebigkeit von einem Stück Software zu beurteilen. Das dies für die öffentliche Verwaltung in mehrfacher Hinsicht eine Herausforderung ist, verstehe ich total. Das ganze System ist auf Verlässlichkeit ausgelegt und hat entsprechend das Mindset seiner Mitarbeiter geformt. Zudem erwarten die meisten Bürger verlässliche und objektive Antworten und Lösungen vom Staat. Sicherlich zu Recht – ich bin sehr gespannt wie sich hier also beiderseitig Verständnis und Akzeptanz von agilen und iterativen Prozessen schaffen lässt.

Die Parallele zu Open Data ist, dass es in beiden Fällen um eine Ergebnisoffenheit geht, die vorher nur bedingt da war und zunehmend wichtiger und angemessener wird. An der Stelle wird es dann eben auch sehr persönlich. Wie geht es Menschen wenn sie mit unsicheren Ausgängen konfrontiert sind? Für einige mag dies aufregend sein während es sich für andere schlimm anfühlt. Die Kunst in der Staatsarchitektur hier ist, denke ich, Grundsicherheiten zu schaffen in denen man sich zuversichtlich einlassen kann auf Unsicherheiten. Sozialstaaten sind hier natürlich sehr viel besser positioniert als Staaten bspw. ohne Krankenversicherung. Wie soll man kognitive Kapazitäten für ergebnisoffene Prozesse mitbringen wenn jederzeit die Gefahr droht durch eine Krankheit oder einen verloren Job in Existenznot zu geraten. Und wenn man sich dem potentiellen Impact eines ergebnisoffenen Prozesses vorstellt – lässt man es zu, dass etwas über den eigenen Horizont hinauswachsen kann? Was wenn das Ergebnis ist, dass wir unsere Organisationseinheit auflösen sollten? Was wenn wir zu Einsichten kommen die zum Wohle aller aber zu meinem Nachteil sind? Hier ist auch wieder das Gefühl sehr wichtig in einer Ökonomie unterwegs zu sein, die Alternativen bietet und einen nicht im Regen steht lässt.

Ein guter Trick ist sicher auch, Methoden und Toolkits zu entwickeln und sie immer präsenter werden zu lassen, dann kann die Methodik des ergebnisoffenen Prozess zum stabilen Ankerpunkt werden wenn es deren Inhalte nicht sein können. “Alle machen jetzt Design Thinking und erzielen tolle Ergebnisse, dann kann es so nicht so falsch sein”. Ich würde aber sagen, letztendlich geht es aber immer darum, Unsicherheit lange genug aushalten zu können, bis sich etwas neues sinnvolles präsentieren kann. Und das auszuhalten kann unangenehm sein. Ich bin kein Psychologe, weiß aber das ich an meinen weniger extrovertierten Tagen Kaffeepausen ganz schlimm finde weil es völlig ungeregelt ist wer mit wem über was spricht. Ab wann ist es ok wenn ich ein Grüppchen verlasse, brauch ich immer einen guten Grund (auf’s Klo, nach Hause…) oder ist die Lust auf ein neues Grüppchen ausreichend. Das nimmt dann natürlich ab mit der Zeit: man lernt die Leute kennen, hat mehr als genug Gesprächsmaterial usw. Hier also community building als Maßnahme Unsicherheitsräume aushaltbar und eben sogar erfrischend und inspirierend zu gestalten. Die Balance von genügend Vorhersagbarkeit gepaart mit genügend Neuem.

Viele Stränge passieren in diese Überlegung denke ich. Das Finance 4.0 Projekt in dem ich in meinem vorigen Job als Blockchain Developer gearbeitet habe war bspw. zu meiner großen Freude sehr stark von Emergenz-Offenheit geprägt. Welche Tokens auf der Plattform Traktion entfalten, welche Beweisführungen dabei die Balance zwischen Sicherheit und Bequemlichkeit meisten, welche Ökosysteme sich um Tokens herum entfalten… an vielen Stellen haben wir aktiv darauf gesetzt nur das minimal nötige vorzugeben und den weiteren Verlauf der Community zu überlassen. Überlegungen die dann in Themen wie Decentralized Autonomous Organizations (DAO) auf spannende Spitzen getrieben werden. Oder App Stores – auch ganz klar die Einsicht das eine große Organisation niemals tolle Apps für alle Anwendungsfälle bauen kann und sie so massiv attraktiv für Entwickler werden wollen. Ich fand diese Stelle aus Lisa’s Blogpost dazu auch super passend: “It became more about what a specific person can bring to the table rather than what their role was”. Hier also auch hin zur Frage was können wir zusammen tun jetzt wo wir zu einem Team zusammengewachsen sind. Auf welche Prozesse können wir uns einlassen jetzt wo wir die Unsicherheiten kalibriert haben auf eine Balance zwischen Vorhersagbarkeit und Neuem.

Als Fazit würde ich sagen, es geht um verschiedenste Strategien Unsicherheiten auszuhalten: persönlicher wie organisationaler Natur. Und darum Emergenz by Design zu kultivieren. Ich bin super gespannt wie das weitergeht. Mit einer immer weiter zunehmenden Weltkomplexität, was kommt nach agil was noch besser mit dieser Dynamik umgehen kann? Oder ändert sich was in unseren System und Wahrnehmungen das es nicht mehr alles so komplex wirkt? Die Auslagerung von Komplexität in dezentrale System als eine Möglichkeit zentrale Verwaltungsapparate zu entlasten?

Published by

Benjamin Aaron Degenhart

Engineering fellow 2020 at Tech4Germany

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